Von Grafen und Halfen

Zur Geschichte des einst größten Bauernhofes in Helpenstein


von Wilhelm Forst / Hans-Theo Forst

Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen von familiengeschichtlichen Forschungen zur Familie Forst entstanden, die über zweihundert Jahre einen großen Bauernhof in Helpenstein bewirtschaftet hat. Bei Erkundungen nach dem Schicksal dieses Hofes ergab sich die Möglichkeit, über die reine Familiengeschichte hinausgehend einen Blick in Teile der Helpensteiner Orts- und Hofgeschichte zu werfen. Ohne den Anspruch zu erheben, diesen Bereich der Helpensteiner Geschichte in Gänze zu behandeln, möchte dieser Beitrag zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema animieren.

Wenige Spuren erinnern an den Bauernhof der Familie Forst. Eine davon ist ein Ölgemälde aus Familienbesitz, welches das Helpensteiner „Forstgut“1 darstellt. Es ist von dem bekannten Neusser Landschaftsmaler Jakob Weitz (1888 – 1971) signiert und entstand vor dem Zweiten Weltkrieg im Auftrage von Wilhelm Forst (1895 – 1953), dem Vater der Autoren dieses Beitrags. Dieser ist auf dem Hof geboren worden, wo er auch seine ersten Kindheitsjahre verbrachte. Das war wohl auch ein Grund für die Auftragsvergabe an Jakob Weitz. Es stellt sich die Frage: Hat Weitz das Motiv aus Beschreibungen des Auftraggebers entwickelt oder gab es eine Skizze oder sogar ein Foto? Denn der Hof selbst existierte vermutlich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. 

Eine weitere Spur stellt der Bildstock von 1743 dar, der heute in der Grafenstraße kurz vor deren Einmündung in die Harbernusstraße seinen Platz gefunden hat.  Kenner der Helpensteiner Heimatgeschichte wissen, dass an seinem ursprünglichen Standort jetzt die Kapelle zur Schmerzhaften Mutter Maria steht.2 Laut der Schulchronik von Helpenstein wurde sie 1952 auf einem zwei Ar (200 Quadratmeter) großen Grundstück errichtet, das die Familie Holzschneider gestiftet hatte.3 Der Auszug aus der Katasterkarte von Helpenstein aus dem Jahre 1812 zeigt neben dem Bildstock einen Teich, von dem aus ein Graben direkt in Richtung Erft verlief; dieser bildete die Grundstücksgrenze.4

Laut dem Flurbuch von Hülchrath Section G „Helfenstein“ von 18125 stand auf dem linken Grundstück der Hof von Peter Kessel (Parzelle 331, heute: Harbernusstr. 16). Auf dem rechten „Bildstockgrundstück“ (Parzelle 330), also hinter der heutigen Kapelle, befand sich der größte Hof des Dorfes. Dieser war Eigentum der Grafen von Bentheim-Tecklenburg als Herren der Herrschaft Helpenstein; Pächter war Heinrich Forst (1769 – 1815), der Urgroßvater von Wilhelm Forst. Über diesen Hof heißt es:6 „Er ist untergegangen und noch nicht einmal in der Erinnerung der ältesten Dorfbewohner überliefert. Dieser Hof sticht sofort ins Auge: Das Grundstück, auf dem er stand, ist für damalige Verhältnisse riesig groß.7 Es erstreckte sich in der Tiefe bis an die Erft und verlief dann an der Straße bzw. dem Feldweg nach Eppinghoven hin bis zum Wald vor Eppinghoven.“

Zum geschichtlichen Hintergrund 

Die Geschichte von Helpenstein an der Erft beginnt im 11. Jahrhundert mit den Herren von Helpenstein; vermutlich waren erste Angehörige der Familie aus Süddeutschland an den Niederrhein zugewandert.8 Die Herrschaft Helpenstein hatte nicht nur im Ort Helpenstein selbst Besitz, sondern auch an vielen anderen Orten. Das Ende dieses Geschlechts zeichnete sich ab nach einem Brudermord (1367). Der Kurfürst von Köln nahm dies zum Anlass, einzugreifen, Helpenstein seinem Herrschaftsbereich einzuverleiben und als weltliches Kurkölner Lehen zu vergeben. Durch Heirat kam die Herrschaft Helpenstein an die Herren von Neuenahr-Alpen (1461)9 und später ebenfalls durch Heirat an die Herren von Bentheim-Tecklenburg (1627).10 Diese Familie besaß sie bis circa 1800. 

Die Geschichte der Herrschaft Helpenstein endet bei vielen Heimatforschern mit ihrer Übernahme durch die Bentheims. Der Hauptgrund ist wohl darin zu sehen, dass entsprechende Archivalien über Helpenstein in den Hausarchiven der Fürsten von Bentheim an den Standorten Burgsteinfurt und Rheda lagern.11 Besonderes Interesse dürfen die vorgenannten Archivalien auch deshalb beanspruchen, weil die Grafen von Neuenahr und Bentheim sehr früh zum Protestantismus konvertiert sind und sich dadurch fortwährende Streitigkeiten mit dem Kurfürsten von Köln ergaben. Die Epoche der konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts lässt sich dadurch auf lokaler Ebene gut dokumentieren. Als Grundbesitzer entsandten die Grafen zu Bentheim-Tecklenburg bis zum Ende des Ancien Régime pflichtgemäß einen Vertreter der Landstände in den kurkölnischen Landtag am Regierungssitz in Bonn.


Die Verwaltung von Helpenstein 

Die Verwaltung von Helpenstein erfolgte – je nach Zuständigkeitsbereich – durch unterschiedliche Behörden. Zum einen existierte das Amt Hülchrath von Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als eine Verwaltungseinheit des Kurfürstentums Köln. Innerhalb des Amtes Hülchrath existierten mehrere adelige und geistliche Unterherrschaften, wie zum Beispiel Wevelinghoven, Helpenstein, Bedburg und die Kölner Erbvogtei. Nach der Inbesitznahme des linken Rheinufers durch die Franzosen 1794 wurde das kurkölnische Amt Hülchrath aufgelöst und von den französischen Behörden eine Zivilverwaltung für die besetzten Gebiete eingerichtet. Wie bereits angesprochen, gehörte die Herrschaft Helpenstein vor der „Franzosenzeit“ dem Fürstenhaus Bentheim-Tecklenburg; für die Verwaltung dieser (eher kleinen) Herrschaft war der Bentheimsche Amtmann der Herrschaft Wevelinghoven zuständig. Während der „Franzosenzeit" gehörte Helpenstein zur Mairie Hülchrath. Diese bestand aus den Gemeinden Hoisten mit Helpenstein, Hülchrath und Neukirchen. Hoisten hatte davor zum Herzogtum Jülich gehört und damit eine Enklave in Kurköln gebildet. 1816 wurde die Bürgermeisterei Hülchrath gebildet. Sie hatte ihren Amtssitz in Hülchrath und bestand unter anderem aus den Ortschaften Hülchrath, Neukirchen, Hoisten, Speck, Wehl, Weckhoven und Helpenstein. 1909 wurde der Sitz der Bürgermeistereiverwaltung von Hülchrath nach Neukirchen verlegt.


Die Halfen – ein einflussreicher Pächterstand 

Im Kölner Umland verfügten viele Klöster und Stifte, aber auch weltliche Adelige, über ausgedehnten Landbesitz und zahlreiche Gutshöfe.12 Diese konnten und wollten sie oft nicht in Eigenregie bewirtschaften, sondern sie bedienten sich dabei als Pächter sogenannter „Halfen“, „Halfmänner“ beziehungsweise „Halbwinner“ (villici). Diese wurden so benannt, weil ursprünglich der Ernteertrag ihnen und den Eigentümern je zur Hälfte zustand.
Sehr bald wurde dieses Pachtsystem durch einen festen Pachtzins abgelöst, während der Name „Halfe“ blieb. Diese Bevölkerungsgruppe stellte auch die Gerichtsschöffen, welche freien Standes sein mussten. Diese Schöffen sprachen selbständig Recht, nicht wie die heutigen zusammen mit Berufsrichtern. Ihr Aufgabenbereich war nicht nur die Strafrechtspflege, vielmehr wurden durch sie auch Kaufverträge, Verpfändungen, Schenkungen und Verfügungen beurkundet. Auch die Verwaltung der Gemeinden lag in den Händen der Schöffen. Die Verpachtung der Höfe erfolgte meist auf zwölf oder 18 Jahre.
Oft blieben die Güter über Generationen im Pachtbesitz derselben Familie. Diese Halfenfamilien waren eine für die kulturelle Entwicklung des Landes bedeutsame Volksschicht. 

Die Halbwinnerschaft brachte nicht nur dem Grundherrn, sondern auch dem Pächter große ökonomische Vorteile: Da die Halbwinner vom gepachteten Gut kein Stück veräußern durften und die Güter nach dem Tod eines Pächters nicht der Realteilung unterlagen (in der Regel ging der Pachtvertrag auf einen Sohn oder Schwiegersohn über), blieben ihre Anbauflächen stets gleich oder wurden durch eigenen Zukauf noch größer.
Damit waren die Halfen den Bauern mit Eigenbesitz überlegen, denn diese hatten bei jedem Erbfall wegen der Realteilung mit dem Problem der Verkleinerung der Hofstellen zu kämpfen. So entwickelte sich im Rheinland mit dem Pächterstand der Halfen eine neue, ländliche Oberschicht, die wirtschaftlich äußerst wohlhabend war.13 

Was hat Helpenstein mit alledem zu tun? Auf einem alten Grabkreuz an der Pfarrkirche St. Peter in Hoisten befindet sich eine Inschrift, die sich als vielversprechende Spur erwies: 

„O MENSCH GEBRAUCH DIE GVLDENE ZEIT 
AN WELCHER HANGT DEIN SEELIGKEIT
DIESE LEHR HATT DIR HINTERLASSEN DER
EHRR VND ACHTBAHRER WITTMAN HENRICH
FORST VON HELPENSTEIN GEWESENER
SCHEFFEN WELCHER IM 95. JAHR
SEINES ALTERS DEN 19ten MAY 1739
AUS DER ZEIT ZUR EWIGKEIT
BERVFFEN WORDEN.
R I P“

 

Es stellte sich die Frage, ob zwischen dem „gewesenen Scheffen“ Heinrich Forst und Heinrich Forst (1769 – 1815), dem Urgroßvater unseres Vaters Wilhelm Forst (1895 – 1953), eine direkte Verwandtschaft besteht. Die Suche in den Kirchenbüchern der Pfarrei St. Peter Hoisten im Bestand des Historischen Archivs des Erzbistums Köln führte mit Heinrich Forst (circa 1644 – 1739), Christian Forst (1690 – 1755) und Bernhard Forst (1734 – 1794) auf drei Generationen von Vorfahren, die den Bentheimschen Hof in Helpenstein als Halfen bewirtschaftet haben. Die beiden letztgenannten wurden in ihren Sterbeeinträgen ebenfalls als Schöffen bezeichnet. So findet man zum Beispiel im Kirchenbuch von St. Peter in Hoisten für 1755 den Eintrag „Christianus Forst, natus 1690, Scabinus [= Schöffe] in Helpenstein, [verstorben am] 26. Martius [1755]“. 

Das Todesjahr von Bernhard Forst (1794) fiel mit der Eroberung der linken Rheinseite durch die Franzosen zusammen. Sein Sohn Heinrich (1769 – 1815) übernahm den Bentheimschen Hof, ob auch als Halfe ist unbekannt. Der Mangel an Quellen erschwert es, die Beziehungen zwischen den Grafen von Bentheim und der Familie Forst zu rekonstruieren. Im Privatarchiv der Grafen Bentheim-Tecklenburg in Rheda befinden sich keinerlei Pachtverträge und Urkunden, allenfalls Bruchstücke von Korrespondenz aus späterer Zeit um 1800 zwischen den gräflichen Verwaltungen in Wevelinghoven und Rheda. 

Eine der wenigen Quellen, in der ein Vorfahre der Familie Forst erwähnt wird, ist die Akte „Jurisdiktion der Herrschaft Helpenstein 1725“.14 Es geht darin um einen Zuständigkeitsstreit zwischen Vertretern des Grafen von Bentheim-Tecklenburg und dem Offizial des kölnischen Archidiakonats zu Neuss.
Streitobjekt ist ein Verfahren gegen zwei Einwohner der Herrschaft Helpenstein wegen einer Sexualstraftat und deren Bestrafung durch den Offizial. In dem Dossier taucht auch der „Scheffe Heinrich Forst” auf, der in dieser Angelegenheit Stellung nimmt und die Zuständigkeit der weltlichen Gerichtsbarkeit des Grafen von Bentheim-Tecklenburg hervorhebt. 

Will man Rückschlüsse auf die Lebensumstände der Mitglieder der Familie Forst im 17. und 18. Jahrhundert ziehen, muss man die Kirchenbücher eingehender studieren.15 Dem „Familienpatriarchen“ Heinrich Forst (1644 – 1739) folgte dessen jüngster Sohn Christian Forst (1690 – 1755) als Halfe nach. Der zweitjüngste Sohn Peter Forst (* 1686) begründete seine Existenz als Landwirt darauf, dass er die Tochter Elisabeth der Halfenfamilie Everts vom Damianshof in Oekoven heiratete und später dort selber Halfe wurde.16
Man beobachtet zudem, dass die Familien vielfach versippt waren und wegen der engen Blutsverwandtschaft oft Ehedispense ausgesprochen werden mussten. Auch der Stand und die Namen der Paten in den Taufregistern verdienen Beachtung. Es tauchen zahlreiche Halfen, mitunter auch Halfmannsfrauen und -töchter, sowie auch Vertreter geistlicher Stände auf, einmal sogar eine Äbtissin. Besonders in der Liste der Nachkommen von Peter Forst und Elisabeth Everts stößt man mehrfach auf recht bekannte Namen von Halfenfamilien, die auch in dem Buch von Wilhelm Gatzen zu finden sind.17 Wollte man so ein Netzwerk schaffen, das in gewisser Weise der Erhaltung dieser Art von „Bauernadel“ dienen soll?


Die Säkularisation und ihre Folgen 

Die Säkularisation zog für den Adel und die Kirche im französischen Einflussgebiet deren Enteignung nach sich. Häufig wurden adelige Besitzungen auch zunächst nur unter Zwangsverwaltung gestellt. Die Pachtverhältnisse änderten sich dadurch nicht.
Folgenreich war zudem ein Grundsteuergesetz, das die Aufstellung eines Katasters zu Steuerzwecken für ganz Frankreich anordnete. Diese Regelungen erstreckten sich auch auf die von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebiete. So entstand um 1812 das Flurbuch Hülchrath mit der Section G „Helfenstein“, 18 heute eine aussagekräftige Quelle für die Orts- und Familiengeschichte. Der Eintrag beim Flurstück 330 weist „Bendheim Comte à Rhéda“ als Eigentümer und Heinrich Forst als Pächter des „Forstgutes“ aus. Zusatzeinträge in roter Schrift etwa der Art „Forst Heinrich zu Helpenstein“ und darüber „Forst Bernhard“ deuten auf einen Besitzübergang auf Heinrich Forst (1769 – 1815) und später auf dessen Sohn Bernhard Christian (1809 – 1889). 

Ein Vergleich der Flurbuchauszüge mit den Parzellen-Nummern auf der Katasterkarte19 lässt erkennen, dass die Flurstücke in unmittelbarer Umgebung des „Forstguts“ (Parzelle 330) sämtlich dem Hause Bentheim gehörten. Das sind die Parzellen 327, 328, 329 und 323, alle jenseits des dort zur Erft hin verlaufenden Grabens. Es gab noch andere Parzellen im Besitz der Bentheims und von Heinrich Forst persönlich, die im Flurbuch erwähnt werden, aber die Zuordnung zur Karte ist unklar. 

Von besonderem Interesse ist die Akte über den Verkauf der Herrschaft Wevelinghoven (einschließlich Helpenstein).20 Soweit bekannt ist, hatten die französischen Behörden Peter Joseph Hermens aus Wevelinghoven mit der Zwangsverwaltung der Bentheimschen Güter betraut. Dieser war für mehrere Herren in unterschiedlichen Funktionen tätig: für die Franzosen als „Contrôleur des Finances“, für die Preußen als „Notar“ sowie für die Bentheims als eine Art Verwalter und Immobilienmakler, der die Abwicklung der Herrschaft Wevelinghoven beziehungsweise Helpenstein überwachte und durchführte.


Seine Korrespondenz mit den Grafen Bentheim in Rheda aus den Jahren 1816 bis 1819 enthält einige Informationen über die Familie Forst. In einem Brief vom März 1816 berichtet Hermens über den Tod von Heinrich Forst, der im Juli 1815 im Alter von 46 Jahren verstorben war. Er hinterließ die 40 Jahre alte Witwe Christina Kessel mit einer Reihe unmündiger Kinder. Außerdem lebte noch die Mutter Wilhelmina Kessel.21 Hermens war die prekäre Situation der Familie Forst offenbar bewusst, und er wandte sich an den Landrichter Wiesner zu Hagen, der ehemals Rat und Amtmann in Wevelinghoven gewesen war, beziehungsweise an die Gräfliche Verwaltung zu Rheda, um über die Eigentums- und Pachtverhältnisse der Forsts Auskunft zu erhalten.22 Im Antwortschreiben aus Rheda heißt es unter anderem: „Aus jenem Grunde glaube ich auch nicht, daß die Sache so genommen werden kann, als gebühre dem Herrn Grafen das Eigenthum des Forstguts. Ich sehe vielmehr den Forst als Eigenthümer und den Herrn Grafen als Rentgläubiger an.“23 

Was danach passierte, blieb bisher unklar. Irgendetwas scheint sich zu Ungunsten der Familie Forst entwickelt zu haben. Konnte sie ihren Verpflichtungen gegenüber dem Grafen zu Bentheim-Tecklenburg nicht mehr vertragsgemäß nachkommen und stand diesem etwa ein Kündigungsrecht zu?24
Ein Brief vom Januar 1819 von Notar Hermens an den Grafen zu Bentheim lässt den Verdacht aufkommen, dass der Graf auf „seinen“ Notar in Wevelinghoven Druck ausübte und ihn zwang, einen Teil seiner Helpensteiner Besitztümer einschließlich der damit verbundenen Verpflichtungen zu übernehmen.25 Jedenfalls klingt es fast wie eine Klage, wenn Hermens schreibt: „Da ich einen großen Theil des Helpensteiner Landes auf meinem Namen habe müssen schreiben lassen, nunmehro auch alles bezahlt und berichtigt ist [...]“.26

Das Rittergut Helpenstein 

Den oben geäußerten Verdacht findet man in Unterlagen bestätigt, aus denen hervorgeht, dass Hermens im Jahre 1818 das „Rittergut Helfenstein/Helpenstein“ von den Grafen zu Bentheim-Tecklenburg gekauft hat.27 An anderer Stelle wird behauptet, das Rittergut Helpenstein sei erst zwischen 1828 und 1830 in den Besitz von Notar Hermens gelangt. Dies erscheint wenig plausibel, denn um 1820 hat Hermens die Parzellen 323, 328, 329 und 330 an die Witwe Heinrich Forst (alias Christina Kessel) veräußert.28 Damit war die Familie Forst schlussendlich doch noch in den Besitz des „Forstgutes“ (Parzelle 330) und einiger angrenzender Garten- und Ackerflächen gelangt. 

Spricht man vom Rittergut Helpenstein, so verbindet man damit die Vorstellung, dass es einen Gutshof gegeben haben muss. In der Liste der von Hermens aufgekauften, zum Rittergut gehörenden Parzellen lässt sich zunächst kein Gutshof im Raum Helpenstein finden. Andererseits ist bekannt, dass das „Forstgut“ zwischen 1818 und 1820 wohl zum angekauften Konvolut an Parzellen gehört haben muss. Der auf der folgenden Seite abgebildete Nachweis des Güterwechsels von Notar Hermens auf die Witwe Heinrich Forst könnte ein Beleg sein, dass der Gutshof der Familie Forst zumindest vorübergehend Teil des Rittergutes Helpenstein war. 

Zwei Einträge in der Literatur verwenden den Namen „Hermes“ – statt Hermens – für den Eigentümer des Rittergutes.29 Diese sind vermutlich als Schreibfehler anzusehen.
Überraschenderweise kommt der Name „Hermes“ auch an drei anderen Stellen ins Spiel, die sich alle auf das ehemalige Hofgut (Parzelle 331, Harbernusstraße 16) von Peter Kessel (1762 – 1826), dem Schwager von Heinrich Forst (1769 – 1815) vom benachbarten „Forstgut“, beziehen. Eine Erläuterung zu den Bewohnern der im Urkataster von Helpenstein von 1810 dargestellten Parzelle 331 verweist auf eine Maria Kessel geb. Hermes, die dort früher einmal (bis 1745) im „Haus Hermes“ gelebt haben soll.30 Auf dem ehemaligen Hofgelände steht heutzutage ein Neubau, an dem eine Plakette angebracht worden ist, deren Inschrift in Großbuchstaben auf den Namen „HERMES“ verweist. An anderer Stelle31 ist von einem „Hof (Hermes)“ die Rede, womit offenbar das ehemalige Hofgut von Peter Kessel gemeint ist.


Deutet dies auf eine Beziehung zwischen Maria Kessel geb. Hermes und der Familie des Notars Herme(n)s aus Wevelinghoven hin?
Recherchen in den Kirchenbüchern von St. Peter in Hoisten bis ins 17. Jahrhundert zu der Vorfahren-Generation der Urgroßeltern von Peter Kessel ergaben allerdings keinerlei Spuren, die auf Maria Kessel hinweisen. Zudem ist nicht zu klären, ob es trotz der Namensgleichheit beziehungsweise -ähnlichkeit einen Zusammenhang zwischen dem ehemaligen Hofgut der Familie Peter Kessel („Hermeshof“) und dem Rittergut Helpenstein gab.


Im Jahre 1831 wurde das Rittergut Helpenstein sogar in die Liste der Landtagsfähigen Rittergüter aufgenommen (Matrikel-Nr. 120). Offensichtlich hatte der Verkauf von Parzelle 330 an Familie Forst dabei keine Auswirkung auf diese und spätere Matrikel-Eintragungen des Rittergutes. Wenn der Forstsche Gutshof von zentraler Bedeutung für das Rittergut gewesen wäre, hätte das schon bei der Ersteintragung Konsequenzen haben müssen.
Allerdings sind die Einschränkungen hinsichtlich der Rittergutseigenschaften erst viel später in den Jahren 1854 und 1867 genauer definiert worden. Es scheint so zu sein, dass in der Zeit davor die Existenz eines zentralen Gutshofes vor Ort nicht Voraussetzung für die generelle Anerkennung als Rittergut war. 

Das Rittergut ging nach dem Tod von Peter Joseph Hermens, 1839, auf seine beiden Töchter über, genauer auf die „Eheleute Rechnungsrath Franz Lichtschlag und Emilie geb. Hermens zu Zweifaltern und Eheleute Geheimer Sanitätsrath Dr. Johann Joseph Nieland und Jeanette geb. Hermens zu Düsseldorf“32. Erbin der Eheleute Lichtschlag war ihre Tochter Marie Louise Hubertine Catharine, genannt Luise.
Am 12. August 1848 heiratete sie den bedeutenden Landschaftsmaler Andreas Achenbach (1815 – 1910), mit dem sie fünf Kinder hatte. 

Nach dem Tode von Notar Hermens ist das Rittergut also zweimal in weiblicher Linie vererbt worden und durch Verheiratung der weiblichen Erben zweimal durch deren Kinder auf ein anderes Geschlecht übergegangen. Unter diesen Umständen wurde nach Maßgabe der Ministerial-Erlasse vom 27. Oktober 1854 und 13. August 1867 das Gut als nicht mehr geeignet angesehen, weiterhin in die Matrikel eingetragen zu werden.33
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bestand die „Erbengemeinschaft Hermens“ aus folgenden Miteigentümern: 1) Professor Andreas Achenbach zu Düsseldorf, 2) Ehefrau Oberst a.D. August v. Bassewitz, Emma geb. Achenbach zu Dersentin bei Langenhagen in Mecklenburg Schwerin, 3) Ehefrau Major a.D. und Landwirt Hans Graf von der Groeben, Lucia geb. Achenbach zu Ludwigsdorf in Westpreußen, 4) Ehefrau Rittmeister a.D. Alexander von Heister, Helena geb. Achenbach zu Düsseldorf und 5) Max Achenbach, Sänger zu Hamburg.

Der Verkauf des Rittergutes Helpenstein und der Übergang des Gutes von Familie Forst auf Familie Deuss 

Das Rittergut Helpenstein verlor schließlich seine Rittergutseigenschaft durch Zerstückelung der Substanz, als seine Eigentümer es im Jahre 1898 an die beiden jüdischen Kaufleute Anselm Kaldenbach (1855 – 1923) und Jacob Cohnen (1845 – 1919) aus Grevenbroich verkauften,34 die den Grundbesitz größtenteils in kleineren Parzellen anderweitig veräußerten. Auf Ansuchen der Erwerber wurde von einem Teil der im Grundbuch Band 8, Artikel 287 eingetragenen Liegenschaften aus dem vorläufigen Stand der Fortschreibungsverhandlungen ein Lageplan ausgefertigt.35 Die darin mit „Deus[s] Heinr. 838/329 etc“ gekennzeichnete Parzelle lässt erkennen, dass Heinrich Deuss (1860 – 1933), ein Cousin von Heinrich Forst (1858 – 1915), um 1898 Eigentümer des „Forstgutes“ geworden war; dabei fasst die Parzellennummer „838/329 etc“ der preußischen Katasterverwaltung die früheren Parzellen 329 und 330 der Franzosenzeit zusammen.36 Die in roter Schrift gekennzeichnete Parzelle „825/324 etc“ haben die Eheleute Heinrich Deuss gemäß Grundbuch37 von Professor Andreas Achenbach und Miteigentümern zu Düsseldorf erworben.
Der Verkauf des Forstgutes könnte ausgelöst worden sein durch den Tod des Vaters Bernhard Christian Forst (1809 – 1889) und/oder der Mutter Gertrud Forst geb. Deuss (1812 – 1895). Verschiedene Grundbucheinträge vermitteln den Eindruck, dass Heinrich Forst, der den Forsthof bewirtschaftete, kaum über die notwendigen Geldmittel verfügt haben kann, die er seinen Geschwistern Wilhelm Forst zu Koblenz, Elisabeth und Margarethe Forst zu Neuss und Maria Katharina Klefisch geb. Forst zu Korschenbroich als Erbteil hätte auszahlen müssen. Ein Verkauf war somit unumgänglich.


Aus einem notariellen Vertrag aus dem Jahre 1904 über den Verkauf von Flurstücken in Helpenstein an Cornelius Deuss geht hervor, dass Heinrich Forst bereits von Helpenstein fortgezogen war, denn er wurde darin als Gastwirt zu Weckhoven bezeichnet.
Dies war der Schlusspunkt der mit dem Verkauf des Gutes der Familie Forst zusammenhängenden Transaktionen an die Familie Deuss, die wohl innerfamiliär abgesprochen waren. Damit verließ Familie Forst endgültig den Gutshof in Helpenstein, der mehrere Jahrhunderte ihr Domizil und ihre Wirkungsstätte gewesen war. Immerhin blieb aber Wilhelm Forst, der ältere Bruder von Heinrich Forst, noch bis zu seinem Tod 1914 Helpenstein treu, denn er hatte zusammen mit seiner Frau Christine geb. Hoffmans 1902 ein Haus auf Parzelle 744/307 in Helpenstein erworben. Dieses Haus wurde nach seinem Tod von den Erben aber ebenfalls an Cornelius Deuss verkauft. Heinrich Deuss verstarb 1933 in Helpenstein, und es lassen sich noch weitere Nachfahren der Familie Deuss in Helpenstein auch zu einem späteren Zeitpunkt nachweisen. Auch der ehemalige „Deuss-Hof“ dürfte noch in der Erinnerung vieler Helpensteiner lebendig sein und Zeugnis geben von den Familien Forst-Kessel-Deuss, die den Ort Helpenstein über Jahrhunderte mitgeprägt haben. 

Über das Schicksal des Gutshofes nach dem Wegzug von Familie Heinrich Forst um 1904 sind keine Informationen bekannt. Es ist zu vermuten, dass Familie Heinrich Deuss den Bauernhof wegen Baufälligkeit oder eventuell auch wegen eines Brandschadens schließlich aufgegeben hat. Kriegseinwirkungen können wahrscheinlich ausgeschlossen werden.
Vielleicht lassen sich alteingesessene Helpensteiner durch diesen Artikel dazu anregen, einmal in ihren Schubladen und Unterlagen nachzuschauen, ob sie möglicherweise Informationen und eventuell auch Fotos finden können, die noch etwas Licht in diesen nicht unbedeutenden Bereich der Helpensteiner Hof- und Ortsgeschichte bringen können


Danksagung

Zahlreichen Personen und Einrichtungen sind wir zu Dank verpflichtet, darunter ganz besonders Herrn Martin Kluth, Ehrenpräsident der Kirmesgesellschaft „Fidele Brüder 1921 Helpenstein", der bei der Suche nach den familiären Wurzeln in Helpenstein sehr hilfreich zur Seite stand und uns vor allem mit der Überreichung der Jubiläumsschrift der Kirmesgesellschaft zu deren 100-jährigem Bestehen wesentliche Anstöße gab, das Leben der Vorfahren der Familie Forst weiter zu erforschen.
Weiter danken wir Frau Cornelia Schulte vom Stadtarchiv Grevenbroich, die unser Projekt von Anfang an mit großem Interesse begleitet hat, für ihre vielfältigen sachkundigen Anregungen; Herrn Michael Conzen für seine sorgfältigen Recherchen in den Kirchenbüchern von Hoisten und Oekoven im Bestand des Historischen Archivs des Erzbistums Köln; Herrn Dr. Daniel Droste vom LWL-Archivamt Westfalen in Münster, mit dessen Hilfe wir Zugang zum Privatarchiv der Grafen Bentheim-Tecklenburg zu Rheda erhielten; Herrn Meinolf Woste vom Landesarchiv NRW Rheinland in Duisburg für seine Hilfe und Ratschläge bei der Suche nach alten Katasterunterlagen und, last but not least, unserer Schwester Anne Forst, die uns bei unseren Recherchen im Lesesaal des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen in Duisburg unterstützt hat.
Beim Korrekturlesen hat sie durch ihre konstruktiven Änderungsvorschläge sehr zur Verbesserung unseres Manuskriptes beigetragen.

Der Artikel ist abgedruckt im Jahrbuch für den Rhein-Kreis Neuss 2024 und kann hier heruntergeladen werden

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